"Ich weiß auch nicht genau, was ich da mache. Aber es ist gut." (T.C. Boyle)
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Vaters stille Brüder

Die vollständige Geschichte finden Sie in "Gottes kalte Gabe"

Mein Vater verliert sie. Einer nach dem anderen zieht in die Grube, geht wortlos und kommt nicht zurück. Egon Baumann war der Letzte, der sich klammheimlich verabschiedet hat. Sechs Monate lästiges, sinnloses Koma, boshaft noch sinnloser gemacht durch zwei Herzinfarkte und einen Schlaganfall. Eine angeratene Operation kurz vor seinem letzten großen Schlaf, die der Einundachtzigjährige sich hätte kneifen sollen.

"Einmal zu oft unters Messer gelegt." Sagte sein Sohn, bleich unter gepinselter Bräune, müde von der Anreise aus Wien. "Ungünstiges Timing der Ärzte" nannte er den Tod, wählte feinere Worte für "Pfusch", sprach in der Kapelle mit der Stimme des Kollegen, der Tränen auf der Zunge schmeckt und vernünftig sein muss. "Wir sind eben fehlbar." Dr. Thorsten Baumann. Spezialist für krumme Nasen, winzige Titten, fette Ärsche.

Ich roch mit ihm gemeinsam die frische Erde, warf meine Rosen auf die polierte Eiche, sah ihn unsicher an. Rote Augen. Perfekt gekleidet. Unauffällig teuer. "Habe ihn selbst geschminkt. Sah großartig aus in seinem Trachtenanzug, hätte ihm gefallen." Ich nickte und drückte ihm wortlos die Hand. Hatte meinen Vater begleitet, der immer noch schwer beeindruckt war von Thorstens Rede. Flüsterte mich beim Ave Maria an. "Hast Du gehört? Die Stümper im Krankenhaus sind schuld. Jagt mich da bloß nicht rein. Da kann ich mir ja gleich ein Zettelchen an den Zeh hängen."

Ich drückte seinen Unterarm. Tatsächlich schwieg er. Kurz nur. Starrte auf das Postergroße Portrait im Blumenmeer, raunte wieder los, diesmal mehr in Ohrnähe. "Gutes Foto von dem ollen Schlawiner. So eins will ich auch." Pause. "Muss noch überlegen, wer die Rede hält. Sollte schon was Feines sein. Mindestens so gut wie die da." Lauerte mit den Augen, als würde er um Bonbons betteln. "Besser."

Ich kicherte stumm, konnte nicht anders, kniff ihn in die Wange, flüsterte zurück. "Viel besser, Papa." Strich mit meinen Blicken über sein Profil und liebte die graue Haut, das weiße Haar, das ihm vorwitzig in die Stirn fiel. Ein großer, schlanker, schöner Mann. Immer noch. Ellenlange Storchenbeine, die er mir, meinen Schwestern, meinem Bruder geschenkt hat. Der Bauch stört ihn. Die Bierchen. Fielen ihm jetzt auch ein.

"Aber nix mit gerne trinken. Nur Bitterschokolade, merk' Dir das. Und auf dem Bild will ich James Dean in alt sein. Mit Kippe." Ich schüttelte den Kopf. "Du wirst als Engel gehen. Irgendwann in fünfzig Jahren."

Mein Papa. Hat Häuser gebaut und mit Maurern gesoffen, um sie sanft und geschmeidig zu klopfen. Ließ die Vorstadtvillen hinter sich, um in den Pinten am Bahnhof Leben zu riechen. War wichtig mit Krawatte, löste den Knoten, um Harald Ulmhoff, Willibald Tykwer, Franz "Fränzken" Pillbusch auf die Schultern zu hauen.

Harry Ulmhoff erfror mit vierundfünfzig. Einziger Sohn von Albert, dem das Familienunternehmen nach dem Tod seiner ganzen lausigen Hoffnung unter den müden Fingern wegstarb. Harry besaß ein englisches Diplom und ein Himmelbett mit Kissen aus chinesischer Seide, aber er zog es vor, als Schnapsleiche in die Geschichte einzugehen. War in seinem dünnen Maßgeschneiderten auf der Bank im Rathauspark eingeschlafen. Zu viel brauner Fusel, zu viel Januarschnee. Zu viele Erwartungen.

Mein Vater kannte ihn aus seiner Studienzeit, mochte den tollpatschigen Harry, den Millionen Sommersprossen und zwei Puppenaugen nicht erwachsen werden ließen. Wollte keine Frau, keine Firma. Steckte das vollgepropfte Hirn in die Erde, lallte lieber dummes Zeug, angelte Lachs auf der Insel und durchbohrte Bierdeckel mit dem Zeigefinger. Das ist zwanzig Jahre her. Ich kannte ihn kaum, sehe aber meinen hüftlangen Pferdeschwanz, den ich längst schon von seiner Schleife befreit hatte, genauso klar vor mir wie diese mädchenhaften roten Locken, die halbstark auf seinem blütenweißen Hemdkragen hüpften.

Sein Grab befindet sich rechts, links, einmal den Bogen ganz in der Nähe der Gruft meiner Großeltern, wo auch Onkel Johannes "Juanjo" liegt. Allerheiligen machen wir den Schlenker, zünden eine Kerze für Harry an, die mein Vater nie will. "Muss nicht sein." Muss wohl doch. Ziert sich nur. Bloß nicht sentimental werden.

Harry ist uns vertraut. Höre seine Geschichte immer wieder, wenn wir ihn besuchen. Manchmal kichert Mama. Erzählt, wie Harry sich mit seinem Hintern auf ihre Schnittchenplatte mit den Gürkchen gesetzt hat, die für das Richtfest bei Hellmanns war. Erzählt, wie Harry den Stecker aus der Dose zog, weil er die Ausschalttaste für das Radio nicht fand. "Ingenieur mit Auszeichnung. Aber zu blöd, um ein dämliches kleines Radio zu kapieren." Papa lacht dann mit. Leid tut's ihnen beiden. "Viel zu jung", sagen sie dann, verstehen sich in diesen Momenten und wissen, dass sie das ewig sagen werden.

Willibald Tykwer. Schuster ohne Leidenschaft. Konrad Tykwers Erbe. Poor lonesome Cowboy. Immer schon. Den umkreisten bereits die Fliegen, als sie seine Wohnung aufbrachen. Mein Vater spielte Daddy Cool, als er es erfuhr. "Sah wohl wie eine verdammte Wasserleiche aus." Wurde zweiundsechzig. "Ist doch kein Alter. Selbst schuld." Maulte Papa Überlebenskünstler und trottete mit Fränzken Pillbusch der billigen Holzkiste hinterher. Wurde irgendwo reingesteckt, mein Vater hat sich das nicht merken können.

Ich setz den roten Plastikbecher mit dem Teelicht am ersten November auf eine der Wiesen, unter denen fremde Knochen liegen, sage fromm: "Für Willy." Mein Vater winkt ab, tippt sich an die Schläfe, grinst mit warmen Augen, wie er immer grinst. "Meine kluge Tochter. Und so was von bekloppt." Freut sich aber. Weiß ich. Immerhin.

Willy Wundermann, der ohne Baum, ohne Sohn, ohne Haus, hat mehr an gezählten Jahren geschafft als Onkel Juanjo. Wurde mit neunundvierzig an seinem nachtschattenblauen Sternen-Auto von seinem Gehirn niedergestreckt, nachdem die Scheidung von Witwe Edeltraud Hermes rollte, einer zusammen gefalteten Frau mit drei geschädigten Dorfblagen. Warum der Bruder meines Vaters, der alle hätte haben können und keine wollte, ausgerechnet sie genommen hat, bleibt ein Rätsel. Sie verkaufte seinen Ehering an meine Großmutter Thea "Oma Ohrring". Die ließ sich Diamanten reinsetzen, hielt meinem Vater den Finger unter die Nase und blieb tränenlos.

"Warum Dein Bruder?" Mein Vater hielt seinen Blick trocken. Er blieb trocken. Auch bei Großvater Hardy, "Opa Loden", der sich ein Heidegrab gewünscht hatte und in seinen jagdgrünen Knickerbockern "schön tief verbuddelt" werden wollte. "Mit Flinte, Franzosenfilz auf dem Kopp und neben Falco." Der weißbärtige Münsterländer überlebte ihn um sechs Monate, bekam sein eigenes Grab, das sich nicht auf dem Nordstätter Friedhof befindet. Das Gewehr liegt dort auch nicht, Großmutter hat es meinem Vater geschenkt. Hat es vorher untüchtig machen lassen. "Damit Du keinen Blödsinn damit anstellst." (...)



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Foto: Gottes kalte Gabe

Karin Reddemann

Gottes kalte Gabe

Ein totes Mädchen tanzt auf Gräbern und spielt Gott; Max Kellermann bekommt sein erstes gutes Gespräch und eine letzte Rose nach seinem großen Flug; Kurt dichtet über Zwerge … und Vater weint trocken, weil gestern eben gestern ist. Die Geschichten von Karin Reddemann lassen den Leser in ein Meer von Bildern und Worten tauchen, das herrlich ehrlich nach Salz schmeckt. Gottes kalte Gabe ist eine Auswahl an Short-Stories, in denen Leben passiert. Es macht manchmal atemlos, sie zu lesen.

Dr. Ronald Henss Verlag, 2006
ISBN 978-3-9809336-3-6

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