"Ich weiß auch nicht genau, was ich da mache. Aber es ist gut." (T.C. Boyle)
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Der Wundermacher

„Grauenvoll. Die scheint ja bestens gelaunt zu sein.“ Stephan Saternus sprach mit seinem Spiegelbild. Ungern, weil er sich morgens nicht leiden konnte. Gesellschaft zu dieser Tageszeit schätzte er noch weniger. Die Frau nebenan goss sich den Rest Riesling in ein Wasserglas, - er hatte in der Nacht keinen besonderen Wert mehr auf Stil gelegt, und ihr war’s egal gewesen -, und sie war offensichtlich bemüht, ihn nicht hören zu lassen, dass sie so kurz nach dem Duschen schon wieder nippen wollte. Oder kippen, sie hatte sich als trinkfest und trotzdem nass und geschmeidig erwiesen.

Es tröpfelte fast in Zeitlupe aus der Flasche, dabei summte sie und ließ ein Zippo aufschnappen. Sie schien sich beschissen wohl bei ihm zu fühlen, das passte ihm nicht. Wieder starrte er in den Spiegel, kratzte aus alter Gewohnheit trockene Zahnpastaspritzer mit dem Daumennagel weg. Er war unrasiert, sehnte sich nach seinen morgendlichen sechsundsechzig Situps, - warum stets diese teuflischen sechsundsechzig, überlegte er zum wiederholten Male, bin ich komplett bekloppt? – und vermisste den sauren Joghurt im Gesicht. „Macht schön, Jungchen.“

Er sah seine Tante Magda neben sich im Spiegel, wie sie ihm mit bespuckten Händen liebevoll die widerspenstigen Locken glatt strich, - ihr Erbe an ihn -, und ihn am Joghurt schnüffeln ließ. Er war jetzt siebenunddreißig, bevorzugte ein Mandel-Oliven-Öl für seinen durchtrainierten Körper und den Sauren für Wangen und Augenpartien. Immer noch. Lausig, dass nichts davon vorhanden war in diesem schäbigen Hotelzimmer, aus dem er eine pinkfarbene Duschkappe, Vanille- Shampoo (große Güte) und Zahnstocher hätte klauen können. Mehr nicht.

Er war müde. Leicht gerötete Augen, kleine hässliche Wülste darunter. „Sauf nicht soviel, dann kannst du dir solche Peinlichkeiten ersparen. Leck dich selbst am Arsch, Penner.“ Er war zu laut, der aufgedrehte Wasserkran schluckte seine Worte nicht. „Hast du was gesagt? Hab nichts verstanden.“ Das war sie. Hatte aufgehört mit ihrem erbärmlichen Summen, irgendein Oldie, dessen Titel ihm entfallen war und den er eh nicht mochte. „Schon gut. Bin gleich fertig.“

Er nahm einen Schluck Mundwasser, gurgelte kurz, spuckte, rieb mit der Handfläche über die Seifenspuren im Waschbecken und entschied sich gegen eine Rasur mit den billigen Klingen, die zum Service gehörten. Vorerst. Er musste sie loswerden, das hatte Priorität. Susanne Sowieso. Insgeheim verfluchte er sich. Wie gehabt: Zuviel Wodka, zuviel Testosteron, zuwenig Stoff auf ihrer Haut, zuwenig Disziplin in seinem verdammten Hirn. Nach der ersten Nacht hätte er sie charmant entsorgen müssen. „Ciao, Baby, ich ruf mal an. Gib auf dich Acht, Kleines.“

Natürlich wäre sie enttäuscht gewesen, wenn er sich nicht gemeldet hätte. Aber irgendwann hätte sie ihn vergessen wie ein versehentlich im Zug zurückgelassenes Taschenbuch, aus dem man nur das erste Kapitel kennt. Erst ärgert man sich und nimmt sich vor, es noch einmal zu kaufen, um zu erfahren, wie es weiter geht, aber dann liest man ein anderes, noch eins, und dann ist das verloren gegangene Buch nicht mehr der Rede wert. Und basta.

Ich Vollidiot lerne einfach nicht dazu, dachte er, ließ kaltes Wasser über seine Hände laufen und fuhr sich mit den nassen Fingern durch die Haare. Erledigt. Stephan atmete tief durch, wünschte sich eine Zigarette, - er rauchte nur noch selten, meist daheim, das öffentliche Gezeter ums Nikotin kotzte ihn an -, schlang das weiße Frotteetuch fester um seine Hüften, in die er automatisch zwickte, um befriedigt fest zu stellen, dass da nichts war. Immer noch nicht. Kein Fett. Sein Körper war straff und gut gebaut, der Bauch flach und fest, die Arme und Beine muskulös, ohne aufgepumpt zu wirken. Solides Training, dachte er, drückte die Pobacken zusammen, entspannte kurz, presste erneut. Hundert Mal pressen, mahnte er sich, alles darunter war kalter Rauch.

Die Olivenmilch, das Mandelöl, Tantchens Joghurt fehlten ihm. Er hatte seinen festen Zeitplan: Erst der Körper, dann der Kaffee, tiefschwarz und ungesüßt, die Zeitung, Lokalteil ausgeklammert, den las er nie, dann sein Pensum am Computer. Seit seinen ersten drei Veröffentlichungen konnte er gut vom Schreiben leben. Ein Glücksfall, das wusste er. Die richtige Idee zur richtigen Stunde, das war’s gewesen.

Er arbeitete an seinem vierten Roman, die Frau im Zimmer störte, wie auch die Atmosphäre ihn anödete. Er war ein freiwillig Reisender, schön, aber dieses vierte Hotelbett innerhalb eines Monats musste nicht sein. Er sehnte sich nach seiner eigenen hässlich karierten Couch, vermisste seine löchrigen Norwegersocken, prima Ersatz für lästige Alter-Mann-Pantoffeln, und irgendwie hätte er jetzt auch gern an seinem massigen, verkratzten Schreibtisch gesessen, dessen Schubladen hysterisch schrien, wenn man es wagte, sie herausziehen zu wollen.

Er wollte schreiben, verdammt. Gleichzeitig war ihm klar, dass sein Buch würde warten müssen. Es war wichtig, mit Konrad zu sprechen, bevor er seinen unsinnigen Ausflug in die Vergangenheit seines Vaters beenden würde. Oder beginnen. Vielleicht jetzt erst recht. Er musste Konrad sehen. Und sie hielt ihn auf. Susanne Sowieso.

Schlank, blond, makelloses Gebiss, kokett vulgär, ohne wirklich flach zu sein. Ein Hauch von Intellekt, der ertragbar ist. Er mochte diesen Typ Frau. Für eine Nacht. Vor zwei Tagen war er noch einmal aufgetaucht in dieser mit Reproduktionen alter Schwarz-Weiß-Fotos voll gemüllten Kneipe, - „Friends of Hemingway“, beknackter Name -, hatte sie wieder getroffen, sich einlullen lassen. Die zweite gemeinsame Nacht, die folgte, war eine Art Pflichterfüllung seinerseits, angenehm zwar, aber nicht weiter nennenswert. Nach der dritten Nacht, die er nicht hatte verhindern können, - wieder zuviel Bier, zuviel Schnaps, zuviel bronzefarbenes Fleisch unter einem leichten Sommerkleid, zuviel Fleisch zwischen seinen Beinen, - Himmel, er war halt ein Mann -, wurde sie ihm richtig lästig.

„Dein alter Herr war ganz hübsch abgedreht, was?!“ Sie schlug die schlanken Beine übereinander, eingewickelt in seinen dunkelblauen Bademantel, der ihr bis zu den Fesseln reichte, strich sich die blonden Locken hinter die Ohren und wippte mit dem rechten Fuß. Aufab. Aufab. Er fühlte sich genötigt, hin zu starren. Leicht abgeblätterter, blauschwarzer Nagellack. Auf dem großen Zeh wuchsen feine helle Härchen, beim Rasieren übersehen. Die ignorieren sie immer, dachte er angewidert, als wären wir Vollidioten. Unterhalb des Knöchels entdeckte er noch ein paar, kaum sichtbar, versuchte, sich an ihre nackte, glatte Scham zu erinnern, leckte sich unwillkürlich über die Oberlippe. Hatte sie da auch schlampig gearbeitet?

Stephan Saternus wusste es nicht mehr. Besser so. Dann fiel sein Blick auf das Buch. Aufgeschlagen in ihrem Schoß lag die braune Kladde mit Friedmanns Aufzeichnungen. Ein unvollständiges Skript über das Leben seines Vaters; Sebastian Saternus. Der kleine Gott. Der mit seinen dreckigen Fingern schnippte und mit seinen Händen heiße Körper kühlte. Sebastian Saternus, der Wundermacher.

„Leg das weg. Sofort.“, sagte er, bemüht, ruhig zu bleiben. Es gelang nicht ganz, ihr Lächeln tauchte in ihren erschrockenen Augen unter, ihr wippender Fuß nahm Leichenstarre an. Stephan war zornig. Er hätte ihr gern eine geknallt, wie ein pickliger Pubertierender, dessen kleiner Bruder sich rotznäsig an den zerlesenen Pornomagazinen in seinem Bettkasten vergreift, hätte ihr am liebsten den Bademantel, - Hoteleigentum -, herunter gerissen und sie nackt auf die Straße gejagt. Lächerlich, reiß dich zusammen, dachte er, atmete tief durch, verschränkte die Arme vor der Brust. Sie rührte sich nicht. „Ich warte. Her damit. Verdammt, was schnüffelst du in meinem Zeug?“

Konrad

Ungefähr zeitgleich hatte Stephans Bruder Konrad, 500 Kilometer von Friedmanns Buch entfernt und unwissend, dass es jetzt endlich tatsächlich in Stephans Besitz war, ähnlich gelagerte Sorgen. Marita Sondermann schien tatsächlich schwer beeindruckt von ihm zu sein. Das ging nicht, das hatte er so nicht geplant. Er war verheiratet, hatte sich natürlich geschmeichelt gefühlt, dass die junge Zahnarzthelferin, ein relativ frisches Mitglied der weltweit agierenden „Saternus-Familie“, ihn so offensichtlich bewunderte.

Er machte sich da nichts vor: Konrad war weder nennenswert attraktiv noch schlank noch auf zumindest einigermaßen charmante Weise weltmännisch. Es war kurzatmig, die Wangen wirkten übertrieben kitschig gefärbt, als wäre er ein Siebenjähriger, dessen Mutter ihm jeden Morgen zwei Liter Rotkäppchensaft in den Ranzen steckt. Natürlich war ihm klar, dass dieses sommersprossige Mädchen, - Gott, sie war ein Kind, grad mal zwanzig -, mit diesem niedlichen Hüftspeck, der über ihren Jeansbund kroch, und diesen großen blauen Puppenaugen keinerlei Interesse für ihn verspüren würde, wäre er nicht Konrad Saternus, ältester Sohn des Großen, des Herrlichen, des Wundermachers.

Egal. Es hatte ihm Spaß gemacht mit ihr. Es machte immer noch Spaß. Sie trafen sich in ihrer Mini-Wohnung, ein Zimmer mit Küchenzeile, ausziehbarer Couch, ein schmales Bad, winziger Balkon mit Blumenkästen, in denen sie Gemüse angepflanzt hatte, - ein trostloser Anblick, es wuchs nicht -, und es kam ihm dort wie ein Paradies vor, währenddessen er sich in der Rolle des leidenschaftlichen Helden sonnte. Niemals in seinem ganzen Leben war es ihm vergönnt gewesen, sich so zu fühlen. Er kannte sich nicht anders als fett, unbeholfen, langsam, oft auch ungeliebt, denn so sehr er sich auch bemüht hatte, war da immer etwas in seinem Kopf gewesen, das ihm ungefragt und grausam wieder und wieder erklärte: Du bist eine Enttäuschung. Ein Versager. Dumm und nutzlos. So ganz anders als dein Bruder.

Stephan. Morgen würde er ihn treffen. Mit Friedmanns Buch im Rucksack. Er stöhnte, gönnte sich noch einen Pfefferminzschnaps. Genug jetzt. Ihm war übel. Er musste etwas essen. Magdas fettigen Scheiß. Den liebte er. Magda , seine Frau, liebte er nicht.

Stephan

Susanna war jetzt gottlob lausige Vergangenheit. Er hatte sie rausgeschmissen, sie hochrot vor Zorn, - „Mieser Wichser, schwuler Scheißer.“ Jaja, kannte er. -, hatte ihre Handynummer entsorgt und sich fertig gemacht. Kein Frühstück auf der rotweiß karierten Decke im schäbigen Speisesaal des Hotels, kein viel zu hart gekochtes Ei. Er würde im Zug essen. Und lesen. Friedmanns Geschichte über seinen allmächtigen Vater: Den Wundermacher. Es verschlug ihm die Sprache, dann schluckte er und heulte die ersten Tränen. Der Appetit war ihm vergangen. Er wußte, dass es wichtig war, mit Stella, seiner Schwester zu sprechen. Heute noch. Er las zum zweiten Mal:

Der Wundermacher
Von Gustaf A. Friedmann

Niemand schlägt völlig grundlos kräftig und wieder, immer wieder, immer zorniger seinen Kopf gegen einen Baumstamm. Hält ihn umklammert wie eine Geliebte, deren Brüste schwer sind und die nicht atmen lassen, wenn das Gesicht in ihnen eintaucht, zwischen ihnen steckt und sich nicht befreien kann. Es quält sich heraus für den kurzen Moment , der kaum genügt, um die Lunge mit Sauerstoff zu füllen, dann wird es wieder hinein gezogen, versinkt im weißen Fleisch, wird nass vom Schweiß, der im Spalt hängt und riecht wie die Hitze in ihrem Schoß.

Als Sebastian Saternus seinen Kopf ruckartig und in regelmäßigen Abständen vorschnellen ließ, dann zurück, erneut vor, zurück, bekam er eine Erektion. Erstaunt registrierte er, dass die feine Haut an seiner Stirn gleichzeitig platzte. Er blutete, und seine Unterhose war feucht. Es war angenehm Es schmerzte nicht. Dort nicht. Nur das Bein, das linke, das kranke, wollte nicht mehr, wollte ausruhen, schlafen. Es war zu kurz, um nützlich zu sein. Ein Parasit, ein Defizit, das seinem Vater erlaubte, ihn Krüppel zu nennen.

Konrad Saternus war ein gottesfürchtiger Mann. Sein Jüngster schien ihm Strafe zu sein. Er nahm sie mit der gleichen geduldigen Ehrerbietung an wie die Hostie bei der sonntäglichen Messe, die an seinem Gaumen klebte, weil ihm beigebracht worden war, sie nicht zu zerbeißen. Er löste sie mit seiner Zunge, die Augen geschlossen beim Gebet, auf das er sich nicht konzentrieren konnte, weil er an die fetten Schenkel seiner Magd dachte, die sie für ihn spreizte, wenn er aus dem Wirtshaus kam und die Frau zu Bett gegangen war, klaglos, frisch gewaschen, mit dem filigranen Kreuz auf der Brust, das einstmals seiner eigenen Mutter gehört hatte.

Jetzt trug es Marie, seine Älteste, die sie auf dem langen hölzernen Tisch in der Küche aufgebahrt hatten, Marie, sein Goldschopf, der sie das Kreuz abnehmen wollten, bevor sie unter der Erde verschwinden würde. Um es vielleicht einmal Gerhards Braut um zu hängen, dem Mädchen, das Sebastians Bruder heiraten könnte, irgendwann, in absehbarer Zeit, um die Zukunft der Familie zu retten. Sebastian kam dafür nicht in Frage, er war hässlich in seinen Augen, verunstaltet durch den kleinen Buckel, der zwischen seinen Schulterblättern steckte wie ein Kropf, der nicht zerstochen werden kann, um befreit auf zu platzen, missgestaltet durch das kurze Bein, das in einem grausam hohen Schuh steckte, der den Makel nicht unsichtbar machte. „Für meinen Hof untauglich.“

Befand er enttäuscht, als die Völlersche, die Hebamme aus dem Nachbardorf, die geeilt war, um seine schreiende Frau von ihrer strampelnde Last zu befreien, ihm das verschrumpelte Etwas in den Arm gelegt hatte. „Die Beine sind nicht richtig. Entweder ist eins zu kurz oder das andere zu lang.“ Sagte er, legte ihn zurück auf das Kissen und hielt ihn nie wieder. Gleichzeitig schwor er sich, kein Kind mehr mit dieser Frau haben zu wollen, ließ sie beten und betrank sich. Ging zu Luisa, seiner Magd, die ihn fortan spielen ließ an ihr, in ihr, aber sie wurde nicht schwanger, und so beschied er sich mit Marie und Gerhard, duldete Sebastian und zeigte sich untröstlich, als sein großes, schönes Mädchen am Fieber starb.

Dort in der Küche lag sie in ihrem weißen Spitzennachthemd, bestickt wie das Brautkleid, das sie nie tragen würde, das lange Haar mit einem Blumenkranz geschmückt, den die Frau geflochten hatte, die jetzt neben ihrer toten Tochter am Herd stand und Eintopf kochte, als würde das Leben einfach so weiter ziehen und ihre vom Weinen geröteten Augen mit nehmen auf seine Reise. Konrad Saternus hatte Sebastian einen Tritt verpasst, wie man einen verlausten Köter tritt, der sich ohne Erlaubnis in die Küche schleicht, um Fleisch zu stehlen. Auf sie gelegt hatte er sich, ihre Wangen geküsst, sie „allerliebste Schwester“ genannt, hatte geflüstert, nicht leise genug, um vor dem Vater verbergen zu können, welche Unverfrorenheit er sich erlaubte.

„Erinnerst Du Dich an unser Vogelnest, Marie? Die nackten winzigen Rotkehlchen, immer hungrig, immer geschrien. Rausgeworfen von ihrer Mutter, weiß nicht, warum, fast zerbrochen dabei. Habe sie aufgehoben und zurückgelegt. Hast gesagt, jetzt krepieren sie sowieso, die riechen nach Mensch, dürfen sie nicht, nie, nie, hast gesagt, lass sie doch, hab ich aber nicht. Wartete auf die Mutter, hat sich auf meine Hand gesetzt, ließ sich streicheln von mir. Du durftest auch, wolltest erst nicht. Habe der Mutter das Herz gedrückt, ganz vorsichtig, habe von den nackten schreienden Kindern erzählt. Du hast gelacht, Spinner gesagt. Hast an deinem Kleid gezupft, an deinen Zöpfen, hast gesagt, jetzt komm doch. Habe der Mutter befohlen, sich zu kümmern. Weil Gott das so will. Weißt Du noch? Hat sie getan, hat alles getan, wurden kräftig und konnten fliegen. Habe sie gerettet, Marie , hätte dich auch gerettet, durfte nicht zu dir, Vater ist schuld, ließ mich nicht zu dir, will nicht glauben, was ich sehe.“

Er hatte nicht bemerkt, dass sein Vater gekommen war. Lag dort auf ihr, auf seiner kalten schönen Schwester, sprach mit ihr, träumte für sie. Konrad Saternus zerrte ihn von ihr weg, packte ihn mit seinen muskulösen Armen und schleuderte ihn neben die Ofenbank, trat ihn in die Hüfte, in den Hintern, vermied es, das kurze Bein in dem verhassten Schuh an zu starren. „Ich mach dich fertig, du bekloppter Krüppel. Rühr Marie nicht an, pack sie nicht an, sonst hau ich dich tot.“

Sebastian weinte nicht. Sah ihn nur an, der mit hochrotem Kopf vor ihm stand und ihm seine Worte ins Gesicht spuckte. Er roch den Schnaps, die Wut, die Einfalt, richtete sich auf und lief aus der Küche, hinaus auf den Hof, witterte den Regen, der sich irgendwie dort oben sammelte wie ein Bienenschwarm, der auf den Befehl zum Angriff wartet. Rannte in den Wald, erstaunlich schnell trotz seines Hinkens, eben so, wie er es sich beigebracht hatte, mit geschlossenen Augen, die Handflächen wie Kelche geöffnet, in denen er seine Gedanken mit sich trug: „Rennt, Beine, ihr könnt es beide, wenn ihr wollt. Meine Kraft ist eure.“

Tatsächlich war Sebastian flinker als sein gesunder Bruder Gerhard, er überholte ihn regelmäßig, wenn sie nach dem Kirchgang zurück zum Hof um die Wette liefen. Er gewann, und es war ihm egal, dass sein Bruder sagte: „Na und? Dafür bist du ein Krüppel und ich nicht.“

Sebastian flüchtete zu seinem Baum, einer knorrigen, unzufriedenen Eiche, die nur schnurrte, wenn er sich an sie drückte. „Mutter.“ Er gönnte ihr diesen Namen, stellte sich vor, dass sie ihn in ihren Armen wiegen würde, bis er Manns genug sein sollte, sie selbst zu schaukeln, zärtlich wie ein Kind, das endlich den ersehnten Zauber erleben sollte, geliebt zu sein. Er atmete tief durch, verspürte Lust, die Nässe in seiner Hose nochmals zu tränken, ballte stattdessen die Faust und schrie, was nur der Himmel verstehen sollte.

„Ich werde heilen, befreien, Euch alle retten. Ich bin der Wundermacher.“ Und dann, ganz leise, wie das Murmeln eines Gebirgsbachs, das ein Lied sein mag für alle, die verstehen. „Schlaf gut, Marie. Ich lebe auch für dich.“

Stephan und Stella

Stephan Saternus hielt diese ersten Aufzeichnungen über das Leben seines Vaters in den Händen, als er in Frankfurt eintraf, vorerst ratlos und doch von einer Euphorie gepackt, die nicht erregender hätte sein können, hätte man ihm von Sinn und Gestalt des einen wahren Grals berichtet. Er war übermüdet von der Zugfahrt, hatte die Krawatte nur nachlässig gebunden und trug trotz der Hitze im Kaminzimmer seiner Schwester, die er aufsuchen musste, um mehr zu erfahren, immer noch sein dunkelblaues Jacket, das edelste und teuerste, das er besaß.

Er hatte es nicht für Stella angezogen, sondern ursprünglich für die Leute in Hamburg, die im Verlag tätig waren, ein aalglattes, schmieriges Völkchen , das ihn anekelte, obgleich es ihn bezahlte. Noch blätterte er nicht weiter, stand nur dort neben der schweren Eichentruhe, die Stella unbedingt hatte aufbewahren wollen, unverständlich für den Bruder, denn oft genug hatte der Vater seine Kinder hinein gesteckt, den massiven Deckel über ihnen geschlossen und befohlen, in der Dunkelheit zu büssen. In seinen schlimmsten Träumen war die Truhe präsent, er roch das Muffige, Abgestandene, fühlte das raue Holz, witterte das Unaussprechliche, das Böse und schluckte seine Angst, um nicht zu schreien, denn jeder Laut hätte die Bestrafung unnötig verlängert .

Es waren harmlose Fehler, die in den Augen des Vaters Anlass genug für seine Art von Züchtigung gaben: Ein nachlässig gesprochenes Gebet, ein Schmutzfleck auf der Sonntagskleidung, ein trotziger Blick, ein Widerwort. Spermaspuren auf dem Laken, die Stephan und sein älterer Bruder Knut mit noch so viel Spucke und Schmierseife nie ganz hatten entfernen können. Lippenstift, den Stella einmal, ein einziges Mal aufgetragen hatte, um in der Truhe verschwinden zu müssen. Niemals wieder hatte seine große, unglückliche Schwester sich geschminkt, auch jetzt nicht, mit vierzig Jahren, die ihr keiner so recht abnehmen wollte, weil sie alt aussah.

Sie blickte ihn nicht an, stand kerzengerade mit dem Rücken zu ihm vor dem Fensterkreuz, starrte in den Garten, wo das Laub tanzte, und summte ihm ein Lied, vermutlich, ohne zu wissen, an welch zärtliche Worte sie sich erinnerte. Melodie und Text waren ihm vertraut, ihre Mutter hatte ihnen das Lied vom fröhlichen Wind und seinen wilden Küssen beigebracht. Er hätte jetzt gern geweint, sie umarmt, mit seinen Lippen ihren Hals gewärmt: „Husch, hübsches Kind, flieg mit mir davon, sei mein kleiner Luftballon…“

Aber er rührte sich nicht, hielt den Kopf gebeugt und spürte, wie seine Knie zitterten. Er wusste, dass seine Schwester keine alkoholischen Getränke im Haus duldete. „Das verbietet unser Glaube.“ Lachhaft. Der Vater hatte immer getrunken, mehr noch, manchmal, ach was, oft, immer wieder hatte er richtig gesoffen. Der Heilige. Der Wundermacher. Er griff in die Innentasche seines Mantels, drehte mit Daumen und Zeigefinger der einen Hand geschickt den Deckel der silbernen kleinen Flasche auf und hielt sie sich an den Mund.

Nahm einen kräftigen Schluck, atmete tief durch. Er war kein Trinker. Aber als Stella ihm erlaubt hatte, sie auf dem Rückweg von Hamburg nach Düsseldorf zu besuchen, - „Kurz nur, Stephan, erwarte nicht, dass du bei mir übernachten kannst.“ -, schien es ihm ratsam zu sein, sich etwas mit zu nehmen. Er ahnte, dass es ihm leichter fallen würde, zumal sie ihm verraten hatte, sie würde ihm geben, was ihm so wichtig wäre: Die blaue Kladde mit den Eintragungen des Vaters.

Stella drehte sich nicht um, als er trank, obgleich sie mit Sicherheit wusste, dass er es tat. Sie war eine bemerkenswert hellhörige Frau, misstrauisch und stets auf der Hut, wie eine wilde Katze, die ihr Zuhause nie gefunden hat. Und niemals finden wird. Ein exotisches Tier, das sich selbst in einen Käfig gesteckt und ignoriert hatte, dass Katzen frei sein müssen, um wirklich leben zu können. Sie hasste Farben. Sie versteckte sich in ihren schwarzen Kleidern wie in Schutzhüllen, die sie unantastbar wirken ließen.

Beabsichtigt. Sie wollte nicht berührt werden. So betonten ihre eng sitzenden Röcke und Blusen auf wenig reizvolle Art ihre winzigen Brüste, ihren flachen Hintern, und sie sah auch wie eine deprimierend hässliche Porzellanfigur, die er mit Genuss zerschmettert hätte, um sie nicht weiter ansehen zu müssen. Wäre sie nicht seine Schwester gewesen, die er immer noch mit vorsichtiger Inbrunst liebte wie ein flügellahmes Vögelchen. Seine Schwester, von der er jetzt wusste, wer sie war. Sie hatte ihm das einsame Entsetzen erspart, lesen zu müssen, was der Vater ihr vor vierundzwanzig Jahren angetan hatte. Ein Vater, der seiner Tochter die bemalten Lippen mit Sand gesäubert hatte, um sie anschließend in die Liebe einzuführen.

So nannte Stella die Vorgehensweise des allmächtigen Vaters. Stephan hatte das Gefühl, seinen Ekel hinaus kotzen zu müssen. Geliebt hatte er ihn nie, jetzt war das nur noch Zorn, Hass auf die unerträgliche Selbstgerechtigkeit, mit der Sebastian Saternus umgesprungen war wie ein neuer Messias, abgöttisch verehrt von seinen Jüngern, die nie begriffen hatten, wie fehlbar und grausam er gewesen war. Tonia, die Jüngste, lebenslustig, hübsch und so gar nicht wie Stella, ihre Mutter, war Stephans, Stellas und Knuts Schwester. Und jetzt eben auch die Nichte.

„Warum hast du, verdammt noch mal, nie etwas gesagt?“ Stephan sprach leise, unmerklich fast nur zu sich selbst, laut genug indes, um zu ihr vor zu dringen. Sie zuckte mit den Schultern, nicht gleichgültig, ergeben vielleicht, denn das Geschehene war letztendlich für sie, die Mitwisserin, Täterin in den Augen des Vaters, unwiderrufbar. „Er hat mir vergeben.“ Sie sagte es ruhig, emotionslos, bewahrte so selbstverständlich seinen Heiligenschein wie ihre angebliche Jungfräulichkeit, auf die sie immer so großen Wert gelegt hatte.

In diesem Moment explodierte es in Stephan. Ohne sich weiter um ihre armen kranken Bedürfnisse zu kümmern nahm er einen zweiten tiefen Schluck aus seiner Flasche, - sie hatte sich jetzt tatsächlich umgedreht, es kümmerte ihn nicht -, und zündete sich eine Zigarette an. Sie runzelte die Stirn. „Das gefällt mir ganz und gar nicht, Stephan.“

Sie stand immer noch am Fenster, drehte ihm erneut den Rücken zu, und er hätte gern einmal nur ihre Stirn geküsst. Zerbrechlich sah sie aus, so schmal, so stolz. Ihr Gesicht spiegelte sich in der Scheibe, es schien fast so, als wäre sie eins mit der wuchtigen Tanne im Garten, diesem düsteren Riesen, den sein Großvater gepflanzt hatte, um nicht vergessen zu werden. Es war spät geworden, sie starrte in die Dunkelheit, die dünnen Lippen fest zusammen gepreßt, die grauen Augen, fast wimpernlos, weit aufgerissen, als könnten sie sehen, was er niemals sehen würde. Oder nicht sehen sollte. Sie war seine Schwester. Ein Kind des Wundermachers, das die Vergangenheit eingeholt hatte. Wie auch ihn. (...)

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Foto: Gottes kalte Gabe

Karin Reddemann

Gottes kalte Gabe

Ein totes Mädchen tanzt auf Gräbern und spielt Gott; Max Kellermann bekommt sein erstes gutes Gespräch und eine letzte Rose nach seinem großen Flug; Kurt dichtet über Zwerge … und Vater weint trocken, weil gestern eben gestern ist. Die Geschichten von Karin Reddemann lassen den Leser in ein Meer von Bildern und Worten tauchen, das herrlich ehrlich nach Salz schmeckt. Gottes kalte Gabe ist eine Auswahl an Short-Stories, in denen Leben passiert. Es macht manchmal atemlos, sie zu lesen.

Dr. Ronald Henss Verlag, 2006
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