"Ich weiß auch nicht genau, was ich da mache. Aber es ist gut." (T.C. Boyle)
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Die Socke wird zum Stoff

Ich halte mal kurz fest: Cousin, in Gedanken vertieft, sieht mich nicht, erschreckt sich, als ich seinen Namen rufe, grüßt zurück wie ein Fremder und geht wortlos weiter seines Weges.

Diesen kleinen, völlig unspektakulären Zwischenfall kann man abhaken, ohne auch nur einen einzigen Gedanken von Bedeutung an ihn zu vergeuden. Prinzipiell ist er ja auch nicht der Rede wert. Oberflächlich betrachtet (sagte Waschmittel-Clementine, rember?, na, egal).

Guckt und denkt man mal weiter und tiefer, dann ist der verpennte Vetter plötzlich ein Quell für die hungrige Autorenseele. Man kann ihn als Stoff nehmen, aus dem eine Kurzgeschichte werden kann. Sozusagen als ein gutes Geschenk des Tages. Und wenn man dieses verdammt gute Geschenk auch wirklich zu würdigen versteht, kann man damit jede Menge auf dem Papier anstellen.

Ein Beispiel:

(...)

Nele war noch sehr klein, als ihre Mutter sich zum ersten Mal vor ihr fürchtete. Sie hatte ihr erzählt, am Zaun, der den Garten vom Feldweg trennte, eine fremde Frau getroffen zu haben, die ihr einen großen Strauß wild wachsender Blumen geschenkt hätte mit den Worten: „Gib sie Deiner Mama und sag ihr, Hoffa wird nicht kommen.“ Einige Tage später erfuhr Stella Marten auf einem Klassentreffen, dass ihre ehemals beste Schulfreundin in Australien ganz plötzlich an einer Infektion gestorben war. Helga Kenkhoff. Stella hatte sie immer nur Hoffa genannt. Helgas Ehemann schickte Neles Mutter auf ihre Bitte hin eine der letzten Aufnahmen seiner Frau, auf der sie ihr langes blondes Haar hochgesteckt hatte und einen auffälligen roten Mantel trug. Als Nele das Foto sah, sagte sie: „Das war die Hoffa am Zaun. So ein Mantel war das.“ Nele konnte Helga nicht kennen, sie hatte sie nie gesehen, nie ihren Namen gehört.

(...)

Er bog um die Ecke bei Blumen Berger, Nele erkannte ihn sofort. Paul. Er war noch dünner geworden, sein Haar war sehr kurz, zu kurz für sein schmales langes Gesicht mit der ewig roten spitzen Nase. Der Gang ihres Cousins war wie früher. Bedächtig. Aufrecht. Selbstbewußt. Er ging, ohne zu sehen, wohin er trat. Er hatte ein Buch bei sich, las es, während er einen Fuß vor den anderen setzte. Als sie seinen Namen rief, lachte und stehen blieb, sah er erstaunt auf, richtete seine Augen hinter seiner klugen häßlichen Brille direkt auf sie, lächelte, nickte, senkte seinen Blick wieder. Las weiter und ging an ihr vorbei, wortlos, ohne zu fragen, ohne sie noch einmal anzuschauen. Nele stand dort wie vergessen, hatte selbst in diesem Moment kein Wort mehr für ihn oder irgendwas übrig, schüttelte nur den Kopf und dachte: Was für ein Arsch.

(...)

Sie war irritiert. Über Pauls merkwürdiges Verhalten hatte sie hinweg sehen können, Paul war eben Paul, sie hatten schon als Kinder nicht viel miteinander anfangen können. Aber Stephan? Der kleine Stephan, der immer so ganz anders als sein Bruder gewesen war? Was trieben die beiden überhaupt hier, dazu noch gemeinsam? Sie lebten längst nicht mehr in Krebbitz, waren noch während des Studiums weggezogen. Ein Familientreffen außerhalb der ordentlichen Reihe, - Geburt, Hochzeit, Taufe, Tod - , war ihr nicht bekannt.

(...)

Als Nele von dem Flugzeugabsturz erfuhr, wusste sie sofort, dass Paul und Stephan in der Maschine gesessen hatten. „Natürlich.“ Sie lächelte.

(...)

„Heute mittag sah ich sie.“ Ihre Mutter schlug die Hände vors Gesicht. Sie weinte. Nele stand auf und strich über ihr Haar. „Scht. Mama. Es ist ein Spiel Gottes. Er spielt es mit mir.“

(...)

Tja, u.s.w.

Oder eben ganz anders. Mein Cousin wäre vielleicht nicht unbedingt begeistert davon, dass er in meiner Erzählung etwas sehr blass weg kommt. Mir egal. Seinen Zweck (für mich) hat er mit seinem lausigen Nicken bestens erfüllt. Er hat mir Stoff besorgt. Und davon kann’s gar nicht genug geben.

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Foto: Gottes kalte Gabe

Karin Reddemann

Gottes kalte Gabe

Ein totes Mädchen tanzt auf Gräbern und spielt Gott; Max Kellermann bekommt sein erstes gutes Gespräch und eine letzte Rose nach seinem großen Flug; Kurt dichtet über Zwerge … und Vater weint trocken, weil gestern eben gestern ist. Die Geschichten von Karin Reddemann lassen den Leser in ein Meer von Bildern und Worten tauchen, das herrlich ehrlich nach Salz schmeckt. Gottes kalte Gabe ist eine Auswahl an Short-Stories, in denen Leben passiert. Es macht manchmal atemlos, sie zu lesen.

Dr. Ronald Henss Verlag, 2006
ISBN 978-3-9809336-3-6

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