"Ich weiß auch nicht genau, was ich da mache. Aber es ist gut." (T.C. Boyle)
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Die Schönste der Welt

Mitten auf dem Marktplatz eines kleinen russischen Dörfchens stand ein kleiner Junge und weinte bitterlich. Niemand kannte ihn. Die Dorfbewohner, die sich nach und nach versammelten, waren ratlos. Auf all ihre Fragen - woher er denn käme, wo er wohne, wer seine Eltern seien -, wusste er keine Antwort.

Nur soviel verstanden die hilfsbereiten Leute: Der kleine Mann hatte sich verlaufen, war vermutlich in einem Nachbarort zuhause. Aber in welchem? Er schluchzte seinen Namen: "Ich bin Vladi."

Der Bürgermeister nickte. "Gut. Vladimir. Und weiter?" Der Junge sah ihn aus großen Augen an, senkte den Blick und zuckte mit den Schultern.
"Also, Vladi, mein Junge, sagte der Bürgermeister und strich ihm aufmunternd über den Kopf. "Dann sag uns doch mal, wie Deine Mutter aussieht."

Da strahlte Vladi und sagte: "Sie ist die schönste Frau der Welt."

Na bitte, das war doch was. Flug trommelte der Bürgermeister, der ein Mann der Tat war, die schönsten Frauen aus der Umgebung zusammen, eine schöner als die andere.
Aber Vladi schüttelte nur traurig den Kopf. "Meine Mama ist viel, viel schöner."

Tja, und dann, als fast schon Hopfen und Malz verloren war und sich alle schon mächtig unglücklich und etwas abgenervt fühlten, kam eine Frau des Weges, schon völlig verzweifelt, hundemüde, mit rotverweinten Augen. Sie war unscheinbar, klein und rundlich, das Haar bereits grau, und ihr wettergegerbtes Gesicht war gezeichnet von einem harten Leben.

"Mama! Meine Mama!" Vladi flog in ihre ausgestreckten Arme. Dann nahm er ihre Hand und sah stolz und selig in die erstaunten Gesichter der Dorfbewohner. "Seht Ihr? Meine Mutter. Die schönste Frau der Welt." Und der Bürgermeister lächelte und sagte: "Natürlich, mein Junge. Das ist sie. Wie konnten wir nur so dumm sein."

Eine feine kleine gute Geschichte ist das. Denke ich. Im Original wird sie besser sein, egal, hier zählt der Gedanke.

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Foto: Gottes kalte Gabe

Karin Reddemann

Gottes kalte Gabe

Ein totes Mädchen tanzt auf Gräbern und spielt Gott; Max Kellermann bekommt sein erstes gutes Gespräch und eine letzte Rose nach seinem großen Flug; Kurt dichtet über Zwerge … und Vater weint trocken, weil gestern eben gestern ist. Die Geschichten von Karin Reddemann lassen den Leser in ein Meer von Bildern und Worten tauchen, das herrlich ehrlich nach Salz schmeckt. Gottes kalte Gabe ist eine Auswahl an Short-Stories, in denen Leben passiert. Es macht manchmal atemlos, sie zu lesen.

Dr. Ronald Henss Verlag, 2006
ISBN 978-3-9809336-3-6

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